OLG Celle 19.2.2020, 14 U 69/19
Fahrradunfall: Haftung eines achtjährigen Kindes
Einem altersgerecht entwickeltem achtjährigem Kind, das bereits seit seinem fünften Lebensjahr im Straßenverkehr Fahrrad fährt, muss bewusst sein, dass eine länger andauernde Vorwärtsfahrt mit dem Fahrrad, während der Kopf rückwärtsgewandt und damit das Blickfeld vom Fahrweg abgewandt ist, gefahrenträchtig ist.
Der Sachverhalt:
Die Klägerin war am Unfalltag im Oktober 2016 als Fußgängerin auf der Promenade
des Gardasees in Italien mit ihrer Freundin unterwegs. Die damals achtjährige
Beklagte zu 1) fuhr mit ihrem Fahrrad in entgegengesetzter Richtung auf der
Promenade. Während der Vorwärtsfahrt drehte sie sich eine Zeitlang zu ihren
Eltern, den Beklagten zu 2) und 3) um, die einige Meter hinter ihr in Sicht-
und Rufweite folgten und dabei ihre mitgeführten Fahrräder schoben. Dabei
verlor sie unbemerkt ihre Fahrspur und näherte sich der an der Uferpromenade
stehenden Klägerin und ihrer Freundin. Als die Eltern den Kursverlust ihrer
Tochter bemerkten, versuchte die Mutter noch, ihre Tochter zu warnen, die eine
Vollbremsung einleitete. Die Klägerin geriet indes ins Straucheln, verlor das
Gleichgewicht und stürzte von der Uferpromenade auf einen ca. einen Meter
darunterliegenden Betonsteg und von dort aus ins Hafenbecken.
Die Klägerin erlitt bei ihrem Sturz eine komplizierte Verletzung am
Sprunggelenk. Sie wurde operiert und befand sich acht Tage in stationärer
Behandlung. Es folgten Nachsorgetermine bei ihrem Hausarzt, Krankengymnastik
und eine weitere Operation, bei der die eingesetzten Schrauben entfernt wurden.
Später behauptete sie, dass sie durch den Unfall Schäden i.H.v. insgesamt rund
3.021 € erlitten habe. Zudem hielt sie ein Schmerzensgeld von 10.000 € für
angemessen.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Es war der Ansicht, eine Haftung der Beklagten
zu 2) und 3) scheide bereits wegen fehlender Verletzung der Aufsichtspflicht
aus. Denn die Beklagte zu 1) habe Fahrrad fahren gekonnt und in dem Bereich der
Uferpromenade, in dem kein Autoverkehr geherrscht habe, auch ohne unmittelbare
Eingreifmöglichkeit der Eltern fahren dürfen. Kinder müssten an die Teilnahme
am öffentlichen Verkehr herangeführt werden, wofür sich die Promenade angeboten
habe. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG die Entscheidung aufgehoben
und der Klage teilweise stattgegeben.
Die Gründe:
Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte zu 1) auf Schadensersatz und
Schmerzensgeld gem. §§ 823 Abs. 1, 828 Abs. 3, 253 Abs. 2 BGB i.H.v. insgesamt
rund 7.448 €.
Gemäß der Ausnahmevorschrift des Art. 4 Abs. 2 Rom-II-VO ist das Recht des
Staates des gewöhnlichen Aufenthaltes von Schädiger und Geschädigtem anwendbar,
wenn beide aus demselben Staat kommen. Dies ist vorliegend der Fall. Sowohl die
Klägerin als auch die Beklagten stammen aus Deutschland.
Die Beklagte zu 1) haftet gem. §§ 823 Abs. 1, 828 Abs. 3 BGB dem Grund nach für
die Schäden der Klägerin. Danach sind Minderjährige für die Schäden, die sie
einem anderen zufügen, nur dann nicht verantwortlich, wenn sie bei der Begehung
der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit
erforderliche Einsicht haben. Das war hier nicht der Fall. Einem altersgerecht
entwickeltem achtjährigem Kind, das bereits seit seinem fünften Lebensjahr im
Straßenverkehr Fahrrad fährt, muss nämlich bewusst sein, dass eine länger
andauernde Vorwärtsfahrt mit dem Fahrrad, während der Kopf rückwärtsgewandt und
damit das Blickfeld vom Fahrweg abgewandt ist, gefahrenträchtig ist. Es bedarf
auch nicht der Prüfung, ob der Minderjährige fähig war, seinen Willen dieser
Einsicht gemäß zu steuern, wie es für die strafrechtliche Deliktsfähigkeit
Jugendlicher erforderlich ist.
Es handelte sich auch – anders als in den vom BGH zu beurteilten
Konstellationen – um keine plötzlich eingetretene Situation, in der sich das
Kind reflexhaft für eine bestimmte Handlung entschieden hat (vgl. BGH, Urt. v.
29.4.1997 – VI ZR 110/96; BGH, Urt. v. 27.1.1970 – VI ZR 157/68). Das
Verkehrsgeschehen war zum Unfallzeitpunkt ruhig und überschaubar und von nur
wenigen Fußgängern geprägt. Auf der Promenade befanden sich kein motorisierter
Verkehr, schnell fahrende Fahrradfahrer oder Inlineskater. Eine
Überforderungssituation mit der Folge eines (möglichen) Augenblicksversagens
bestand nicht.
Die von der Klägerin erlittene Sprunggelenksfraktur, die keine weiteren
Dauerschäden nach sich gezogen hat, ist mit einem Schmerzensgeldbetrag i.H.v.
6.000 € angemessen kompensiert. Sie hat auch einen Anspruch auf Feststellung
gem. § 256 Abs. 1 ZPO, dass die Beklagte zu 1) verpflichtet ist, sämtliche
künftige Schäden aus dem Vorfall zu ersetzen, weil aufgrund der Fraktur des
Sprunggelenks Spätschäden möglich sind.
Quelle: Rechtsprechung der niedersächsischen Justiz